Entstehung von ADHS
Genese/Ätiologie
Multifaktorielle Genese
"Ätiopathogenetisch wird eine multifaktoriell durch komplexe Gen x Umwelt-Interaktionen bedingte morphologisch-funktionelle Entwicklungsstörung des Gehirns diskutiert.
Pathophysiologisch steht eine Dysregulation verschiedener Neurotransmittersysteme und neuronaler Regelkreise im Vordergrund, die die sich in molekulargenetischer Variabilität, neuropsychologisch-psychophysiologisch
objektivierbaren Parametern und strukturell-funktioneller Bildgebung reflektiert."
(Renner et al. 2008)

Genetische Prädisposition
Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien
- 18% der Eltern von Kindern mit ADS sind betroffen
- Geschwister von Betroffenen haben Risiko von bis 35%
- höhere Konkordanzrate für monozygote Zwillingspaare (65% vs. 35%)
- höhere ADS-Wahrscheinlichkeit bei leiblichen Eltern vs. Adoptiveltern (7,5% vs. 2,1%)
Molekularbiologische Befunde
» mehrere verschiedene Gene beteiligt
z.B. Assoziationen zwischen ADHS und Genen, die als Modulatoren der dopaminergen Signalwege wirken:
- Dopaminrezeptor-4 (DRD4)
(z.B. 7-repeat-Allel kodiert einen Dopaminrezeptor (DRD4) mit veränderter Struktur und verminderter Sensitivität für Dopamin)
- Dopamintransporter (DAT) und Chromosom 5p13
(Erhöhte Dichte/Aktivität sorgt bei einen Teil der Patienten dafür, dass Dopamin zu schnell abtransportiert wird und nicht ausreichend zur Neurotransmission zur Verfügung steht)
Psychosoziale Faktoren
- niedrige Ausbildung der Eltern
- niedriger sozio-ökonomischer Status
- Alkoholprobleme beim Vater
- allein erziehende Eltern
- hoher Stresspegel in der Primärfamilie
Exogene Faktoren
(siehe auch U. Sauerbrey 2010)
Exogene Faktoren: Alkohol
- Die Neurotoxizität von Alkohol in hohen Dosen ist bekannt.
- Es gibt Hinweise auf den Zusammenhang von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und der Häufigkeit des Auftretens von ADHS (Linnet 2003).
- Eine andere Studie fand einen Zusammenhang von pränataler Alkoholexposition und Konzentrationsstörungen und Hyperaktivität (Mattson et al. 1998).
- Es gibt aber auch eine große Studie, die keinen Zusammenhang zwischen kindlichen Verhaltensstörungen und pränataler Alkoholexposition fand (O‘Connor et al. 2002).
Exogene Faktoren: Rauchen
- Tabakrauchexposition vor der Geburt ergab ein 1,9-fach höheres, nach der Geburt ein 1,3-fach höheres Risiko für Verhaltensauffälligkeiten (u.a. Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizite, emotionale Störungen).
- Insbesondere zum Zusammenhang pränatale Exposition und spätere Verhaltensstörungen existieren inzwischen zahlreiche Studien (Rückinger et al. 2009, Fortier et al. 1994, Linnet et al. 2003).
- Es gibt den Verdacht, dass pränatal aufgenommener Tabakrauch zu einer späteren Sucht disponiert (Buka et al. 2003, Porath & Fried 2005).
Exogene Faktoren: Blei
- Blei ist als Nervengift bekannt, der zulässige Grenzwert ist bis auf 10 µg/dl gesenkt worden. Es wurde verwendet u.a. für Wandfarben, bei Wasserleitungen, als Zusatz in Benzin (inzwischen verboten).
- Erhöhte prä- und postnatale Bleibelastung führt zu niedrigeren Ergebnissen in Kognitionstests (McMichael et al. 1998).
- Scheinbar auch unter dem Grenzwert liegende Bleikonzentrationen (< 5 µg/dl) korrelieren mit den Kernsymptomen einer ADHS (Nigg et al. 2008).
- Braun und Mitarbeiter fanden eine Korrelation zwischen der Höhe der Konzentration des Bleis im Blut und dem Auftreten der ADHS (Braun et al. 2006).
Exogene Faktoren: Polychlorierte Biphenyle/PCB
- PCBs sind eine heterogene Gruppe von ca. 200 ähnlichen chemischen Stoffen. Sie kommen vor in Hydraulikflüssigkeiten, Schmierölen, Imprägniermitteln, als Weichmacher in Kunst- und Klebstoffen und Fugenmassen. Seit 1989 ist die Anwendung in Deutschland verboten.
- Man geht davon aus, dass die Abgabe von PCB aus verschiedenen Baumaterialen an die Raumluft zu einer evtl. gefährlichen Innenraumbelastung führen kann.
- Es existieren Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen PCB-Belastung und schlechteren Leistungen in Aufmerksamkeit und Gedächtnis fanden (Jacobson 1996, Patadin et al. 1999, Stewart et al. 2003).
- Dennoch gibt es keine gesicherten Fakten zum Einfluss von PCB auf ADHS, sondern "nur" auf einzelne Symptome.
- Eine neuere Studie von Sagiv ergab eine moderate Assoziation zwischen PCB-Werten im Nabelschnurblut und ADHS-artigen Verhaltensproblemen bei Kindern (Sagiv et al. 2010).
Sonstige exogene Faktoren
Weitere in diesem Zusammenhang diskutierte Stoffe sind:
- Pestizide (insbesondere Organochlorverbindungen, Pyrethroide, Organophosphate),
- Quecksilber / Amalgan,
- Mangan oder Formaldehyd,
- Nahrungsmittelzusätze: Konservierungsstoffe (Phosphate, Natriumbenzoat) und Farbstoffe (E 110, E 104, E129).
Eine im renomierten Journal Lancet 2007 erschienene Studie zeigte einen verstärkenden Einfluss der Substanzen auf hyperaktives Verhalten.
Cave: Synergieeffekte von Neurotoxinen !
- Formaldehyd verstärkt die Toxizität von Quecksilber.
- Amalgan verstärkt die Toxizität von PCP oder Formaldehyd.
- Potenzierung zwischen Quecksilber und PCBs.
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Neuroanatomische Befunde
Größe der zerebralen Hemisphären um 8% vermindert
Volumenminderung:
Frontallappen rechts 5%
Basalganglien 6%
Cerebellum 12%
Links-Rechts-Asymmetrie geringer ausgeprägt




Neurophysiologische Befunde
- Entwicklungsabweichung/-verzögerung im EEG
- Verminderte neuronale Aktivität in verschiedenen Kortexarealen
- Verminderte neuronale Hemmung, aber erhöhte neuronale Aktivität in sensomotorischen Gebieten
- Verminderte neuronale Aktivität im Striatum
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Funktionelle Bildgebung/SPECT
- Lou et al. (1984, 1989, 1990):
Minderperfusion rechtes Striatum und Frontallappen bei Hyperperfusion rechter primär-sensomotorischer Kortex
- Sieg et al. (2000):
Abnahme der rechtsseitigen striatalen sowie links frontalen und parietalen Perfusion
- Zametkin et al. (1990):
reduzierter Glukosemetabolismus in beiden Hemisphären 8,1% , verminderter Glukoseumsatz während CPT im linken Frontallappen
- Ernst et al. (1998):
verminderte Dopa-Decarboxylase-Aktivität (als sekundären Effekt auf ein primäres dopaminerges Defizit interpretiert) präfrontalen Kortex, vor allem medial und linksseitig

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Darstellung von Dopamintransportern im Striatum
- Arbeitsgruppen aus Boston und München fanden übereinstimmend deutlich erhöhte Konzentration der DAT!
(in Übereinstimmung mit vermehrter Expression des Dopamintransportergens DAT1 bei ADHS)
- Unter Gabe von Mehtylphenidat deutliche Reduktion!
- Aber: DAT-Erhöhung und daraus resultierender Dopaminmangel als primärer Mechanismus wird immer unwahrscheinlicher!!!
- Neuere Studien (z.B. Hesse et al. 2008, Volkow et al. 2008) fanden erniedrigte Dopamintransporter bei Patienten mit ADHS
Unterschiedliche Befunde zur DAT-Dichte aus Volkow et al. 2007

Erhöhte striatale DAT-Dichte bei einem Patienten mit ADHS und Reduktion der Dichte unter MPH-Therapie.(Krause 2000)

Erniedrigte striatale DAT-Dichte bei Patienten mit ADHS versus gesunden Kontrollen in einer eigenen Studie(Hesse S, Ballaschke O. et al. 2009)


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Neurobiologische Grundlagen des pathophysiologischen Erklärungsmodells
- 5 parallel organisierte kortiko-subkortikale Regelkreise sind an der Ausprägung der ADS/ADHS-Symptome beteiligt!
- Über sie erfolgt die Regulation von Sensomotorik, aufmerksamkeitskontrollierten Augenbewegungen, exekutiven Funktionen, Aufmerksamkeit verschiedener Art sowie Motivation, Emotionen und Affektkontrolle.
- Präfrontaler Kortex gilt als übergeordnete, supervidierende Struktur, die zudem mit sensorischen, limbischen und motorischen Funktionseinheiten verbunden ist.
- Regulation der verschiedenen Regelkreise erfolgt vor allem durch dopaminerge und noradrenerge Transmittersysteme



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