Medikament gegen ADHS?
Methylphenidat und Sucht
Schädlicher Gebrauch (F1x.1 nach ICD-10):
- Deutlicher Nachweis für körperliche oder psychische Probleme infolge des Gebrauchs (incl. eingeschränkter Urteilsfähigkeit oder negativer Konsequenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen).
- Art der Schädigung sollte klar bezeichnet werden können.
- Gebrauchsmuster besteht seit mindestens 1 Monat und trat wiederholt in den letzten 12 Monaten auf.
- Kriterien einer anderen Störung treffen nicht zu.
Dazugehöriger Begriff: Missbrauch psychotroper Substanzen
Abhängigkeit (F1x.2 nach ICD-10):
- Starkes Verlangen oder eine Art Zwang, die Substanz zu konsumieren.
- Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch.
- Ein körperliches Entzugssyndrom bei Reduktion oder Absetzen der Substanz bzw. der Gebrauch um Entzugssymptome zu mildern.
- Toleranzentwicklung.
- Einengung auf den Substanzgebrauch mit Vernachlässigung anderer Aktivitäten.
- Anhaltender Gebrauch trotz eindeutig schädlicher Folgen.
3 oder mehr Kriterien über mindestens einen Monat oder wiederholt innerhalb von 12 Monaten.
Methylphenidat und Sucht i.S. Abhängigkeit?
Quatsch !
Methylphenidat und Sucht i.S. Missbrauch?
Vielleicht !
Methylphenidat (2-Phenyl-2-(2-piperidyl)essigsäuremethylester)

"Modal-Hypothese"
Eine Substanz hat (nur) dann ein Suchtrisiko, wenn sie die mesolimbischen dopaminergen Zellen des Belohnungssystem beeinflusst.
(Robbins & Everitt 1999)
Pharmakokinetik
Je schneller ein Wirkstoff anflutet und je steiler der dadurch ausgelöste Anstieg der Dopaminkonzentration ist, desto höher das Suchtpotential.
(Ikegami & Duvauchelle 2004, Swanson & Volkow 2002, 2003)
Sucht (allgemein) - Neuroanatomie
Zentrale Rolle bei Suchtentwicklung: Mesolimbisches System!
(Ventrales Tegmentum, Präfrontalkortex, Nucleus caudatus, Putamen, Nucleus accumbens, Hippokampus, Amygdala)
- Präsentation von drogenassoziierten Reizen führt bei Suchtkranken zu einer erhöhten Aktivität in Striatum und Amygdala.
- Präsentation von natürlichen Verstärkern zeigt verminderte Aktivität !
(Hermann 2006, Weiss 2005, Wrase 2006)
Sucht (und ADHS) - Neuroanatomie
(Zentrale) Rolle bei ADHS: Mesolimbisches System!
- Bei unmedizierten ADHS-Patienten verminderte Aktivität im ventralen Striatum bei Antizipation von Geldgewinnen.
(Scheres 2007)
- Verminderte Aktivität im Striatum bei Ankündigung von potenziellen Geldgewinnen.
(Stoy 2006)
Sucht (und Methylphenidat) - Neuroanatomie
(Zentraler) Ansatzpunkt bei Methylphenidat: Mesolimbisches System!
(Präfrontaler Kortex, frontostriatales Netzwerk, (ventrales) Striatum, N. accumbens, anteriores Cingulum)
- Methylphenidat blockiert in diesen Regionen vor allem die Dopamintransporter.
(Vaidya et al. 1998, Grund 2005, Volkow)
Methylphenidat und Sucht
Hinsichtlich Pharmakokinetik ähneln sich MPH, Amphetamin und Kokain!
- Orale Einnahme,
- Resorption über Schleimhäute von Mund und Gastrointestinaltrakt,
- Verteilung über den Blutkreislauf,
- schnelle Überwindung der Bluthirnschranke,
- selektive Bindung an Dopamintransporter.
ABER - hinsichtlich Selektivität unterscheiden sich MPH, Amphetamin und Kokain!
- MPH blockiert auch den im präfrontalen Kortex reichlich vorhandenen Noradrenalintransporter/NET.
- Kein nennenswerter Einfluss auf den Serotonintransporter.
- Blockierende Wirkung von Amphetamin auf DAT geringer.
- Auch Kokain hat eine 4-fach geringer Wirkung auf DAT.
- Kokain hat eine 180-fache Wirkung auf den SERT.
- "Ecstasy" hat eine 140-fach geringere Wirkung auf DAT, aber eine 55-fach stärkere Wirkung auf SERT.
(Krause & Krause 2010)
» Trotzdem wurde MPH aus pharmakologischer Sicht als potentiell suchterzeugend eingeschätzt.
Methylphenidat – Sucht (Tierexperimentelle Befunde)
Bei 28 untersuchten Studien deutliche Hinweise auf erhöhtes Suchtrisiko.
(Kollins et al. 2001)
Klassischen Paradigmata der Suchtforschung:
- Eigenverabreichung
- Stimulusdiskrimination.
ABER
- Verwendung von vorwiegend gesunden Ratten.
- Meistens viel höhere Dosen pro Kilogramm Körpergewicht.
- In 10 von 11 Studien Eigenverabreichung intravenös.
- Eine Studie mit intraperitonealer Gabe.
Methylphenidat – Sucht (Klinische Studien)
32 untersuchte klinische Studien ergaben verschiedene, heterogene Ergebnisse.
Verwendete Paradigmata der Suchtforschung:
- Eigenverabreichung,
- Substanzdiskrimination,
- Euphorie- ("high") oder Aktivierungsgefühle.
- 2 der 4 Studien zur Selbstverabreichung ergaben Missbrauchspotential
- 3 Studien zur Substanzdiskrimination ergaben Missbrauchspotential
- 18 von 25 Studien wiesen Effekte wie „high“-Gefühl oder Craving nach
Cave:
- überwiegend Studien bei Gesunden,
- nur bei 22 von 32 Studien orale Applikation,
- keine randomisiert oder doppelblind placebokontrolliert,
- 3 der Studien an Patienten mit Kokainmissbrauch durchgeführt,
- in den Studien an Kindern keine solche Effekte zu verzeichnen.
Kein erhöhtes Suchtrisiko bei Behandlung mit Methylphenidat.
(Kollins et al. 2003)
Senkung des Risikos einer Abhängigkeit um 85% unter MPH.
(Biedermann et al. 1991)
Metaanalyse: Senkung des Risikos um 50% unter MPH.
(Wilens et al. 2003)
Methylphenidat bei Sucht (Einzelfallberichte/offene Studien)
Verringerung von ADHS-Symptomatik und Substanzkonsum unter Methylphenidat bei Kokainabhängigkeit.
(Levin et al. 2006)
Reduktion der ADHS-Symptomatik und des Kokainkonsums unter MPH
(Somoza et al. 2004)
Langfristige Abstinenz von (allerdings nur 3) Suchtpatienten unter MPH
(Schubiner et al. 1995)
Methylphenidat bei Sucht (placebokontrollierte Studien)
Verringerung von ADHS-Symptomatik bei unverändertem Substanzkonsum unter Methylphenidat bei Kokainabhängigkeit
(Schubiner et al. 2002)
Reduktion der ADHS-Symptomatik und des Kokainkonsums unter MPH
(Levin et al. 2008)
Reduktion von ADHS-Symptomatik und Substanzkonsum unter MPH (aber nicht statistisch signifikant)
(Carpentier et al. 2005)
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Methylphenidat und Missbrauch
Erste Berichte über Missbrauch 1960. (Roux 1960)
Definition von Missbrauch: Einnahme ohne Rezept, Einnahme in höheren Dosen als üblich, Nasale (oder i.v.) Applikation
(Livio et al 2009)
Meistens keine Kontrolle der Diagnose !!!
Meistens keine Informationen über Häufigkeit und Dauer !!!
- Nordamerikanische Untersuchung an 500 Jugendlichen mit ADHS
- 14% Missbrauch (überwiegend nasaler Gebrauch)
- 40% der Missbräuchler waren Polytoxikomane !
(Bright 2008)
- Untersuchung bei 450 Jugendlichen einer Suchteinrichtung
- 6% Missbräuchler zum Aufnahmezeitpunkt (nasale Applikation)
- in 75% der Fälle Patienten selbst oder Angehörigen verschrieben !
(Williams et al 2004)
- Umfrage bei 11000 Jugendlichen an 100 amerikanischen Highschools
- insgesamt hatten 6,9% jemals in ihrem Leben zu Stimulanzien gegriffen
- 4% im Laufe des Jahres Methylphenidat konsumiert
- 2,1% hatten innerhalb des letzten Monats zu Stimulanzien gegriffen
- Schwelle für Missbrauch lag bei "mindestens 1 Mal"!
(McCabe 2004)
DAK-Gesundheitsreport 2009
- 4,9% haben bereits ohne medizinische Notwendigkeit Medikamente zur (vermeintlichen) Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit oder psychischen Befindlichkeit genommen.
- 10,5% kennen eine Person, die dies gemacht hat.
- Medikamente gegen Konzentrationsstörungen lagen mit 7% bei den Frauen und 20% bei den Männern auf dem 5. und damit vorletzten Platz !
(Medikamente gegen depressive Verstimmung wurden in 50% der Fälle von Frauen und in 14% von den Männern genommen)
- Wie häufig werden die Medikamente genommen?
täglich: 38,6% / 21,0%
bis 2mal pro Woche: 6% / 12,9%
bis 2mal pro Monat: 3,6% / 8,1%
bis 2mal pro Quartal: 9,6% / 14,5%
seltener bzw. ganz unterschiedlich: 40,9% / 38,7%
- Verordnungen von MP gingen als Einzige um 3,9 bzw. 5,8% zurück!
- Nur in 27,6% der Fälle passte die Diagnose nicht zum verordneten Medikament Methylphenidat (ähnliche Werte zeigten sich für Modafinil, Piracetam, Fluoxetin, Metoprolol).
- Mit etwa 1-2% "Dopern" unter den aktiven Erwerbstätigen ist das Phänomen "Doping am Arbeitsplatz" nicht sehr verbreitet!
Missbrauch (allgemein)
Ist nicht auch die Einnahme von Vitaminpräparaten ohne dringende medizinische Indikation eine Art Missbrauch ???
- 2003 in Deutschland Gesamtumsatz in Höhe von 1,2 Milliarden Euro
(Multivitaminpräparate, Vitamin E, Vitamin B-Gruppe)
- Amerikanische Studie über 8 Jahre mit 161808 Teilnehmern (publiziert 2009)
(42 Prozent nahmen regelmäßig Multivitaminpräparate ein!)
- Keine statistisch signifikante Wirkung auf Krebs- und Herzkreislauferkrankungen und Todesfälle
- Für die präventive Wirkung einer Vitaminsubstitution gibt’s bisher keine Belege!
- Möglichkeit negativer Folgen: Zunahme der Mortalität bei Vitamin E-Substitution
» Vitaminpräparate ab jetzt auf Btm-Rezept ???
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Methylphenidat und Neuro-Enhancement

Der gelegentliche Missbrauch von Mitteln zur Leistungssteigerung ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und betrifft alle Mittel, die eine solche Leistungssteigerung oder Beschwerdenminderung betreffen!
(z.B. 10% der Manager nehmen Metoprolol gegen stressbedingte vegetative Beschwerden. Institut für Arbeits- und Sozialhygiene Karlsruhe 1999)
Vielleicht ist der relative geringe reale Missbrauch von MP auf eine fehlende Wirkung bei Gesunden zurück zu führen?
- Methylphenidat scheint bei gesunden Menschen überwiegend Wirkungen auf das symphatische System zu haben (Pulserhöhung, Blutdruckanstieg, Appetitminderung).
- PET-Studie: Verminderung des gesamten (insbesondere des nicht benötigten) cerebralen Glukosestoffwechsel beim Lösen einer Rechenaufgabe → Fokussierung der Hirnaktivität ?!
(Volkow et al 2008)
- Bessere Lösung komplexer räumlicher Aufgaben unter MP. Bei Wiederholung der Aufgabe jedoch schlechtere Ergebnisse als unter Placebo → Behinderung längerfristigen Lernens ?!
(Elliott et al 1997)
- Methylphenidat scheint bei gesunden Menschen keine Effekte zu haben auf kognitive Funktionen (wie Aufmerksamkeit oder sprachliche Flüssigkeit).
(Knecht 2008, Outram 2010)
- Auch bei älteren Leuten keine Effekte unter MP.
(Turner et al 2003)
- Im Gegensatz zu den Testergebnissen glaubten die Studienteilnehmer, ihre Leistungen hätten sich verbessert !
(Schermer et al. 2009)
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Methylphenidat und Überverordnung
- Anstieg der verordneten definierten Tagesdosen von 0,3 Millionen 1990 auf 33 Millionen 2005.
(Schwabe und Paffrath 2006)
- Anstieg der Methylphenidatverordnungen bei 7- bis 14-Jährigen von 0,43% 1998 auf 1,1% im Jahr 2000.
(Ferber et al. 2003)
- deutlich niedrigere Behandlungsprävalenzrate im Vergleich zur Störungsprävalenz !
- 2003 in Nordbaden 35% der 7-12-jährigen und 46% der 13-19-jährigen ADHS-Patienten mit MPH behandelt (wenige Monate).
(Schlander et al. 2010)

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Methylphenidat und Epilepsie
Bei unter antikonvulsiver Therapie anfallsfreien Patienten kommt es nicht zum erneuten Auftreten von Anfällen!
Lediglich bei nicht anfallsfreien Patienten zeigt sich eine leichte Zunahme der Anfallsfrequenz!
Bei einzelnen Epilepsieformen sogar ein positiver Effekt unter Methylphenidat!
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